Nur einige Tollköpfe wollten lieber zuerst ein wenig erschossen oder gehenkt seyn; zum Beispiel der Andreas Hofer.
In Innsbruck ließ er sich gut auftragen. So sieht Johann Peter Hebel die Zeit, die Andreas Hofer im September in der Innsbrucker Hofburg zugebracht hat. 27 Jahre später, am 22. September stirbt der 1760 in Basel geborene Dichter, Theologe und Pädagoge, der 1811 die nachstehende Kalendergeschichte mit dem Namen „Andreas Hofer“ veröffentlicht hat. Seine Beschreibungen des Geschehens heben sich von der später in den „Erinnerungskanon“ aufgenommenen Literatur deutlich ab:
Als im letzten Krieg die Franzosen und Oesterreicher in der Nachbarschaft von Tyrol alle Hände voll miteinander zu tun hatten, dachten die Tyroler: Im Trüben ist gut fischen. Sie wollten nimmer bayrisch sein. Viel Köpfe, viel Sinne, manchmal gar keiner. Sie wußten zuletzt selber nimmer recht, was sie wollten. Unterdessen läuteten in allen Thälern die Sturmglocken. Von allen Bergen herab kamen die Schützen mit ihren Stutzen. Jung und alt, Mann und Weib griff zu den Waffen. Die Bayern und Franzosen hatten harten Stand; besonders in den engen Pässen, wenn Felsenstücke wie kleine Häuser so groß auf sie herabflogen. Bald glücklich, bald unglücklich in ihren Gefechten, nahmen die Rebellen bald Innsbruck ein, die Hauptstadt in Tyrol; bald mußten sie sie wieder verlassen; bekamen sie wieder, und konnten sie doch nicht behalten. Ungeheure Grausamkeiten wurden verübt, nicht nur an den bayerischen Beamten und Unterthanen, nein auch an den eigenen Landsleuten; Vogel friß oder stirb. Wer nicht mitmachen wollte, war des Lebens nicht sicher. Endlich als manches schöne Dorf und Städtlein in der Asche lag, mancher wohlhabende Mann war ein Bettler, mancher leichtsinnige und rasende verlor das Leben; jedes Dorf, fast jedes Haus hatte seine Leichen, seine Wunden und seinen Jammer, da dachten sie zuletzt, es sei doch besser bayerisch seyn, als sie im Anfang gemeint hatten, und unterwarfen sich wieder. Unversucht schmeckt nicht. Nur einige Tollköpfe wollten lieber zuerst ein wenig erschossen oder gehenkt seyn; zum Beispiel der Andreas Hofer.
Andreas Hofer, Sandwirt in Passeyer und Viehhändler, hatte bis über sein vierzigstes Jahr, bis der Aufstand ausbrach, schon manch Schöpplein Wein ausgeschenkt, manch Stücklein Kreide an bösen Schulden verschrieben, und schätzen konnte er ein Häuptlein Vieh trotz Einem. Aber im Aufstand brachte er es zum Kommandanten, nicht bloß von einem Städtlein oder Thal, nein von der ganzen gefürsteten Grafschaft Tirol, und nahm sein Quartier nicht nur in einem Pfarrhof oder etwa in einem Amthaus, sondern in dem großen fürstlichen Residenzschloß zu Innsbruck. An fünfzigtausend Mann Landsturm stand in kurzer Zeit unter seinem Befehl. Wer keine Flinte hatte, präsentierte das Gewehr mit der Heugabel. Was verordnet und ausgefertigt wurde, stand Andreas Hofer darunter, das galt. Sein geheimer Kriegsminister war ein geistlicher Herr, Pater Joachim genannt, sein Adjutant war der Kronenwirt von Blutenz [sic!], sein Schreiber ein entlaufener Student. Unter seiner Regierung wurden für dreißigtausend Gulden eigene Zwanzigkreuzerstücke für Tirol geprägt, der Hausfreund hat auch einen Hut voll davon. Ja, er legte eine eigene Stückgießerei an, aber wie? Die Kanonen wurden aus Holz gebohrt, und mit starken eisernen Ringen umlegt. Item es that gut, nur nicht dem, den’s traf. In Innsbruck ließ er sich gut auftragen. Selber essen macht fett. Er sagte: „Ich bin lang genug Wirt gewesen. Jetzt will ich auch einmal Gast sein.“ Bei dem allen veränderte er seine Kleidertracht nie. Er ging einher wie ein gemeiner Tiroler, und trug einen Bart, so lang das Haar wachsen mochte. Nur im roten Gürtel trug er ein Paar Terzerolen, und auf dem grünen Hut eine hohe Reiherfeder, und neben seinen schweren Regierungsgeschäften trieb er den Viehhandel fort, wie vorher. Jetzt schickte er einen Adjutanten mit Befehlen an die Armee ab, jetzt kam ein Metzger: „Wie theuer die vier Stiere, die Ihr bei Eurem Schwager eingestellt habt?“ Sonst war er kein ganz roher Mann: viel Unglück hat er verhütet, wo er wehren konnte. Aber größer war das Unglück, das er durch seine Hartnäckigkeit gegen alle Einladungen zum Frieden und durch seine Treulosigkeit verursachte. Jetzt schrieb er an das bayerische Kommando: „Wir wollen uns unterwerfen und bitten um Gnad. Andere Hofer Oberkommedant in Diroll gewöster.“ Zugleich schrieb er an den Adjutant Kronenwirt: „Wehrt euch solang ihr könnt. Trifft’s nicht, so gilt’s nicht.“ Als sich aber endlich das verblendete Volk der angebotenen Gnade seines großmütigen Königs unterwarf, und alle, welche sich nachher mit den Waffen des Aufruhrs noch blicken ließen, gehenkt wurden, mancher Baum trug solch ein Früchtlein, da war Andreas Hofer nicht daheim zu finden, und an keinem Baum; und es hieß, er sei ein wenig spazieren gegangen über die Gränze. Den Willen dazu mag er gehabt haben in seiner armen hölzernen Hirtenhütte auf einem hohen Berg im hintersten Passeyer Thal, wo er mit seinem Schreiber verborgen lag, und mit sechs Fuß hohem Schnee verschanzt war. Sein Haus und sein Vermögen war von den wütenden Bauern geplündert. Dürftige Nahrung verschaffte ihm von Zeit zu Zeit seine Frau, die jetzt selber mit ihren fünf Kindern von fremden Wohlthaten lebt. Da sah es anders aus als in der Burg zu Innsbruck. Schlimmeres Quartier wartete auf ihn. Einer von seinen guten Freunden verrieth für Geld seinen Aufenthalt. Ein französisches Kommando umringte seine Hütte und nahm ihn gefangen. Man fand bei ihm vier geladene Kugelbüchsen, viel Geld, wenig Nahrung. Er selbst war von Mangel, Kummer und Angst abgezehrt. So wurde er von einer starken militärischen Begleitung unter Trommelschlag durch das Land nach Italien nach Mantua ins Gefängnis gebracht, und daselbst erschossen. In solchen Wassern fängt man solche Fische.
Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß Leid gebracht.
(Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes).
Diese Geschichte, die in zeitraffender Erzähltechnik den Kampf der Tiroler schildert, erschien 1811 mitsamt Holzstich im Kalender „Rheinischer Hausfreund“, dessen Jahrgänge 1808 bis 1815 und noch einmal 1819 unter Hebels Ägide entstanden. Das Besondere am „Rheinländischen Hausfreund“ war die Art und Weise, in der Hebel die Texte verfasste: Unbeeindruckt von der damals aufkommenden Volkstümelei, den beginnenden nationalen Strömungen, philosophisch-literarisch (die Romantiker, Fichte etc.) oder politisch (Turnvater Jahn, Arndt, etc.), aber auch in kritischer Distanz zur tendenziell ablehnenden Haltung der Aufklärung gegenüber Erzeugnissen der Volkskunst, prägte er seinen eigenen Stil. Zweifellos stark beeinflusst durch seine Erfahrungen als Prediger und Seelsorger versuchte er nicht, gelehrte Sachverhalte in einfacher Sprache auszudrücken (was einer Belehrung des Volkes gleichgekommen wäre), sondern – umgekehrt – die Vorstellungs- und Denkweise der „einfachen Leute“ mit sprachlich verfeinerten Mitteln darzustellen, beispielsweise wenn Hebel über das Ende des Aufstands und das Schicksal seiner Protagonisten schreibt: […] da war Andreas Hofer nicht daheim zu finden, und an keinem Baum; und es hieß, er sei ein wenig spazieren gegangen über die Gränze. Eben eine ironisierte Darstellung der Vorstellung, dass sich der Anführer und (Mit)Verantwortlicher für die Kämpfe auf diese Weise einem Schicksal, wie es andere getroffen hat, wenigstens vorerst entzieht. Nur auf diesem Weg glaubte er die Menschen erreichen zu können und auch der Sprache des Dialekts gerecht werden zu können, beides unverzichtbare Elemente der Kalendergeschichte, die neben erzählenden und unterhaltenden auch lehrsame Elemente in sich vereint und somit dem Schwank, der Anekdote und der Parabel nahe steht.
Zweifellos schmeichelt diese Geschichte Andreas Hofer und den Tirolern nicht. Vom „Helden Hofer“ bleibt wenig übrig, vielmehr wird er als sturer und nur bedingt fähiger Anführer gezeichnet, der darüber hinaus dem eigenen Vorteil nicht abgeneigt ist. Auch das Bild der Tiroler ist kein allzu positives. Unbedacht haben sie sich in einen Kampf gestürzt, den sie nicht gewinnen können, noch dazu haben sich die Aufständischen an der eigenen Bevölkerung vergangen und etwa gebrandschatzt. Konsequenterweise hat Hebel in dieser Geschichte die Untreue an und von Andreas Hofer verarbeitet: Der Verrat an seinem Volk – eben die Grausamkeiten, Hofers sture Kriegshaltung und seine mäßigen Führungseigenschaften im Allgemeinen – spiegelt sich in dem Verrat wieder, der ihn schließlich das Leben kosten wird.
Max Söllner
Literatur
– Josef Feichtinger (Hg.), Tirol 1809 in der Literatur. Eine Textsammlung (Literarische Zeugnisse aus Tirol 4), Bozen 1984.
– Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Tübingen 1846), Hildesheim/New York 1980.
-Johann Holzner, Andreas Hofer im Spiegel der Literatur, in: Kühebacher, Egon (Hg.), Tirol im Jahrhundert nach Anno Neun (Schlern Schriften 279), Innsbruck 1986, 37-50.
– Rainer Kawa (Hg.), Zu Johann Peter Hebel (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft 52), Stuttgart 1981.
-Ludwig Rohner, Kalendergeschichte und Kalender, Wiesbaden 1978.
-Ludwig Rohner, Kommentarband zum Faksimiledruck der Jahrgänge 1808-1815 und 1819 des „Rheinländischen Hausfreunds“ von Johann Peter Hebel, Wiesbaden 1981.